(Un) sicher gebunden –

Bindungswunden und Entwicklungskrisen

Ein Projekt von Marielle Gerke mit Ann Antidote (Shibari), Dan Farberoff (Video), Oliver Stein (Fotografie), Karoline Müller, Enzo Caterino und Eshaan Dwivedi (Musik).

„Ich spüre Schmerz. Einen Schmerz im Brustkorb. Es wird immer enger, das Atmen schwerer. Lange kann ich es nicht mehr aushalten. Ich bitte um Hilfe. Meine Füße berühren den Boden. Dann auch meine Knie. Der Schmerz lässt nach. Mein Herz hat wieder mehr Raum. Ich breche in Tränen aus. Ich fühle mich verletzlich und machtlos. Ich kapituliere. Ich atme. Ich fange an, mich aus den Fesseln zu befreien. Es braucht Zeit. So verstrickt bin ich, so verwickelt. Ich werde wütend. Ohnmächtig-zornig. Was soll das. Ich will hier raus. Ich schreie, aber es ist nichts zu hören. Ich wehre mich. Schmerz auf der Haut. Ich will aufgeben. Mach ich aber nicht. Ich schaue genau hin. Sehe die einzelnen Knoten. Geduldig löse ich einen nach dem anderen. Ich beginne, mich zu entspannen. Komme wieder zur Ruhe. Bewege mich. Da ist mehr Freiheit. Da ist Lebendigkeit. Ich spüre das Echo der Fesseln auf meiner Haut. In meiner Seele. Ihren Nachhall. Behutsam streichele ich mich. Langsam entwickele ich mich. Immer weiter. Es wird leichter. Ich bewege mich. Ein bisschen freier. Ich lebe. Ich bin in Sicherheit. Was bleibt, sind die Narben. Wie lange? Weiß ich nicht, vielleicht für immer.“

Das Wort Trauma kommt aus dem Griechischen und bedeutet „Wunde“. In der Psychologie beschreibt ein Trauma eine starke seelische Erschütterung. Diese ist Folge einer massiven Bedrohung für Körper, Geist oder Seele, der gegenüber ein Individuum sich hilflos ausgeliefert fühlt. Die empfundene Not, der erlebte Kontrollverlust und die daraus resultierenden Ohnmachtsgefühle überfordern dabei das Nervensystem der Betroffenen, so dass diese in einen Ausnahmezustand geraten, aus dem sie manchmal allein ohne Hilfe nicht mehr herausfinden. Bei einem Bindungstrauma entsteht das Trauma in der Kindheit im Zusammenhang mit nahen Bezugspersonen, wodurch ein massiver innerer Konflikt entsteht und die Bindung stark leidet. Ursachen für ein Bindungstrauma können körperlicher, sexueller oder emotionaler Missbrauch sein, körperliche oder emotionale Vernachlässigung sowie plötzliche Trennung von, Unberechenbarkeit oder die fehlende Einstimmung der Bezugspersonen. Bindungstraumata, die oft über lange Zeit hinweg und durch sich wiederholende Verletzungen entstehen, führen bei betroffenen Kindern zu unsicheren Bindungsstilen. Im Erwachsenenalter haben es Personen mit unsicheren Bindungsstilen oft schwer, sich in Beziehungen sicher, wohl und geborgen zu fühlen, Beziehungen überhaupt einzugehen oder über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten. Häufig wiederholen sie unbewusst und ungewollt im späteren Leben die in ihrer Kindheit erfahrenen destruktiven Beziehungsmuster und Verhaltensweisen, wodurch es bei nicht wenigen zur Reaktivierung des alten Traumas kommt oder neue Traumata erlitten werden. Neben den Auswirkungen auf die Bindungsfähigkeit können Traumata sowohl die physische als auch psychische Gesundheit von Betroffenen langfristig stark beeinträchtigen.

In diesem Projekt habe ich mich aus persönlichem Interesse und aufgrund der gesellschaftlichen Relevanz mit dem Thema Trauma auseinandergesetzt. Durch die Corona-Pandemie und was sie für mich mit sich gebracht hat, war ich in den vergangenen zwei Jahren immer wieder mit realer und irrationaler Existenzangst sowie mit Gefühlen von Ohnmacht und Wut konfrontiert. Gefühle, die ich gut kenne und die sich im Lockdown in einer Intensität aktualisiert haben, dass ich zeitweise nicht wusste, wie ich damit umgehen soll und ob ich genug Kapazität haben würde, sie zu halten. Immer wieder musste ich mich daran erinnern, dass ich nicht so mächtig bin, wie ich gern wäre, aber auch nicht so ohnmächtig, wie ich fürchte. Mittlerweile hat sich mein System beruhigt und ich fühle mich wieder sicher, selbstwirksam und liebevoll unterstützt. In meinem Projekt habe ich mit Japanischem Fesseln experimentiert. Ich habe mich fesseln lassen und mich selbst gefesselt. Mich hat daran interessiert, wie es sich für mich anfühlt, wenn ich mich freiwillig an eine andere Person ausliefere und meinen Willen sowie meine Freiheit, mich zu bewegen, aufgebe. Ich habe mich gefragt, was ich daraus für mein Leben in diesen Zeiten lernen kann und wie die Fesseln meine Körperlichkeit sowie mein Bewegungsmaterial informieren. Erlebe ich die Fesseln als Behinderung oder geben sie mir auch Orientierung und Halt? Kann ich die Ambivalenz zwischen meinem Wunsch nach Kontrolle und meiner Sehnsucht nach Hingabe für einen Moment auflösen? Eines kann ich rückblickend sagen: Ich bin hingebungsvoller als erwartet, aber auch verletzlicher.

Ich bin dankbar für die Unterstützung und Expertise meiner drei KollegInnen, die mich in diesem Prozess begleitet haben: Ann Antidote (Shibari), Dan Farberoff (Video) und Oliver Stein (Fotografie). Ein besonderer Dank gilt Ann, die mich mit sehr viel Achtsamkeit und Respekt auf eine berührende und wertschätzende Weise gefesselt hat.

 


 

 

Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Programm NEUSTART KULTUR, Hilfsprogramm DIS-TANZEN des Dachverband Tanz Deutschland.

 

Hier noch die Links zu den Webseiten meiner ProjektpartnerInnen:

Ann Antidote www.strangesavagelives.net

Dan Farberoff www.danfarberoff.com

Oliver Stein www.oliver-stein-photography.com

Karoline Müller www.madima-music.com

 

Bücher und andere Medien, die mich und das Projekt inspiriert und informiert haben:

BESSEL VAN DER KOLK:
The body keeps the score. Mind, brain and body in the transformation of trauma.

LAURENCE HELLER und ANGELIKA DOERNE:
Befreiung von Scham und Schuld. Alte Überlebensstrategien auflösen und Lebenskraft gewinnen. Das Neuroaffektive Beziehungsmodell NARM.

LAURENCE HELLER und ALINE LAPIERRE:
Entwicklungstrauma heilen. Alter Überlebensstrategien lösen. Selbstregulierung und Beziehungsfähigkeit stärken. Das Neuroaffektive Beziehungsmodell NARM.

MANUELA HUBER:
Trauma und die Folgen. Trauma und Traumabehandlung, Teil 1.

ULLA FRÖHLING:
Vater unser in der Hölle. Inzest und Missbrauch eines jungen Mädchens in den Abgründen einer satanistischen Sekte.

GABOR MATÉ:
The Wisdom of Trauma. (Film; Conversations with leading experts on Trauma such as Stephen Porges, Diane Poole Heller, Esther Perel, Peter Levine, Thomas Hübl and many more). URL: https://thewisdomoftrauma.com/

BUNDESMINISTERIUM FÜR FAMILIE, SENIOREN, FRAUEN UND JUGEND:
Frauen vor Gewalt schützen. Häusliche Gewalt. URL: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/frauen-vor-gewalt-schuetzen/haeusliche-gewalt/haeusliche-gewalt-80642 (Stand 01.12.2021).

BUNDESKRIMINALAMT:
Vorstellung der Zahlen kindlicher Gewaltopfer – Auswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) 2020. URL: https://www.bka.de/DE/Presse/Listenseite_Pressemitteilungen/2021/Presse2021/210526_pmkindgewaltopfer.html (Stand 01.12.2021).

SABINE BODE:
Die vergessene Generation. Kriegskinder brechen ihr Schweigen.

SABINE BODE:
Nachkriegskinder. Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter.

SABINE BODE:
Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation.

SABINE BODE:
Kriegsspuren. Die deutsche Krankheit German Angst.

JESSICA FERN:
Polysecure. Attachment, Trauma and Consensual Nonmonogamy.